Eine aktuelle Studie zur Öffentlichen Auftragsvergabe wäre wohl vorwiegend für akademische Fachzirkel interessant, würde sie nicht auch interessante Einblicke in die Vergabepraxis eröffnen.

‚Der Kunde ist König‘. Diese Redensart soll nach Ansicht von Karen Jaehrling und Christin Stiehm in doppelter Hinsicht auf den Staat zutreffen. Als solcher kann er nicht nur durch seine Einkaufsmacht mitbestimmen, was wie produziert wird, sondern legt als Souverän auch die Spielregeln des Wettbewerbs um öffentliche Aufträge fest.

Aus dem Befund, dass wenig darüber bekannt sei, wie diese Rahmenbedingungen eigentlich zustande kommen, wer mit welchen Interessen, Machtressourcen und normativen Vorstellungen an ihrer Gestaltung beteiligt ist, und welche Formen des Konfliktaustrags sich hier herausbilden, entstand das Forschungsprojekt zur ‚Öffentlichen Auftragsvergabe als neue Arena der industriellen Beziehungen‘. Ergebnis dieses Forschungsvorhabens ist das Buch „Der Staat als ‚Guter Auftraggeber‘? Öffentliche Auftragsvergabe zwischen Vermarktlichung und Sozialpolitisierung“ (Springer VS, 2022). Ein gelungener Aufschlag, um die Entwicklung der Vergabepolitik und -praxis in Deutschland seit der letzten großen Vergaberechtsmodernisierung nachzuzeichnen und grundlegende Zielkonflikte aufzuzeigen.

Studie mit Fokus auf Schulverpflegung und Sicherheitsdienstleistungen

Das Buch beruht auf einer qualitativen und vergleichenden Erhebung in fünf Großstädten Deutschlands, die zwischen Januar 2017 und März 2020 durchgeführt wurde. Dabei wurden rund 60 Interviews mit Vertretern lokaler Politik und Verwaltung, lokalen Verbänden von Arbeitgebern und Gewerkschaften, beauftragten Firmen und deren Beschäftigten(vertretern), sowie weiteren Organisationen geführt.

Der Fokus der Studie liegt auf zwei Wirtschaftssegmenten, nämlich der Schulverpflegung und den Sicherheitsdienstleistungen für Flüchtlingsunterkünfte. Bewusst seien somit zwei Dienstleistungen gewählt worden,

deren Qualität zumindest zeitweise Gegenstand (kritischer) öffentlicher Aufmerksamkeit war, und bei denen damit auch seitens der Wählerschaft, der Medien und der Nutzer öffentlicher Dienstleistungen Impulse zur qualitätsorientierten Vergabe an die Verwaltung herangetragen wurden.

Die beiden Branchen seien nach Ansicht der Autorinnen gut geeignet, um zu untersuchen, welche Praktiken an die Stelle der Vergabe nach dem billigsten Preis treten würden.

In einem umfangreichen Teil I zur Vergabepolitik skizzieren die Autorinnen die titelgebende „Vermarktlichung“ und „Sozialpolitisierung“ im Zuge der europäischen Vergaberechtsreform. So seien das Wettbewerbsprinzip und der moderne Bieterschutz „Meilensteine der Vermarktlichung“, wohingegen sich der Einzug von sozialen Kriterien als „langer Schatten der EuGH-Rechtsprechung“ vollzogen hätte. Im Ergebnis bestehe heute ein „institutionalisiertes Nebeneinander“ von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung.

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Vergaberechtlicher Pragmatismus

Während dieser erste Teil einen vergleichsweise guten Einblick in die Vergaberechtsreformen mit teils sperriger Begriffswahl (kapitalistische „Landnahme“, „Kolonialisierung“ des Unterschwellenrechts) bieten mag, erhalten Leser im zweiten Teil zur Vergabepraxis instruktive Einblicke in die Vergabepraxis der (untersuchten) Kommunen.

Hier fällt der häufig pragmatische und durchaus risikoaffine Umgang mit dem Vergaberecht auf, wie auch die Autorinnen festhalten:

Zur Lösung dieser Herausforderungen nehmen die Kommunen nicht selten vergaberechtliche Risiken in Kauf und wenden erhebliche Ressourcen und Kreativität auf, um Dilemmata und Herausforderungen zu lösen.

Besonders deutlich wird dies in den vielen wörtlichen Zitaten aus den im Rahmen der Studie mit Vergabepraktikern geführten Interviews:

wir sind da eher so: selbst es versuchen und dann eben eigene Rahmenbedingungen setzen, und dadurch dann die Erfahrung machen und dann eben nachsteuern. Und sagen: ‚Ja okay, müssen wir da noch vielleicht etwas anders machen‘. Und das geht dann schon auch so weit, dass wir natürlich auch Vergaberügen, Beschwerden und auch bis zu Nachprüfungsverfahren gegebenenfalls haben. Aber bislang, muss ich sagen, sind wir da ganz gut gefahren.

Ein weiteres Beispiel:

Hätte der Bieter geklagt, wären wir wahrscheinlich bei der Vergabekammer hinten runtergefallen. Also er hat wirklich alle Unterlagen, die wir gefordert haben, konnte er nachweisen. Aber wir hatten am Ende halt wirklich kein gutes Gefühl bei dem Bieter. Und wir sind an der Stelle hier einfach auf Risiko gegangen.

So wird ein deutlicher Kontrapunkt zu der immer wieder anzutreffenden Auffassung gesetzt, wonach (kommunale) Vergabestellen im Wesentlichen überfordert und dringend schulungsbedürftig seien.

Jaehrling und Stiehm skizzieren demgegenüber ein Anforderungsprofil von professionellen Vergabekräften als geprägt von „Intermediäre[n], die in einem multiprofessionellen Kontext die Fäden zusammenführen müssen“ und dabei „unterschiedliche Wissensbestände und Wünsche, und auch unterschiedliche Niveaus von Wissensbeständen (Experten vs. Laien), verbinden“.

Zwar sei der vergaberechtliche Wissensbestand „chronisch unvollständig“, diese anhaltende (Rechts-)Unsicherheit sei aber vielmehr ein Charakteristikum moderner Verwaltung, die sich diversen Tendenzen wie Ökonomisierung und Managerialisierung und nur teilweise kompatiblen Leitbildern ausgesetzt sieht.

Sicher ist dieser Eindruck einer progressiv-pragmatischen Vergabepraxis auch dem Studiendesign geschuldet, das ja gerade solche Segmente (Schulverpflegung und Sicherheitsdienstleistungen) untersucht, in denen nicht lediglich nach niedrigstem Preis, sondern qualitätsbezogen vergeben wird, was derart pragmatisches Vorgehen eher erfordert und begünstigt. Gleichwohl lässt sich „Der Staat als ‚Guter Auftraggeber‘?“ als gelungener Beleg anführen, möchte man der verbreiteten Klage überforderter Vergabestellen begegnen.

Bezug und Download des Buches

Der Staat als ‚Guter Auftraggeber‘? Öffentliche Auftragsvergabe zwischen Vermarktlichung und Sozialpolitisierung“ von Karen Jaehrling, Universität Duisburg-Essen, und Christin Stiehm, Ministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Tourismus und Arbeit Mecklenburg-Vorpommern, ist 2022 als Open-Access-Publikation von Springer VS veröffentlicht worden und kann hier in verschiedenen Formaten heruntergeladen werden.