Nach Aufhebung des Vergabeverfahrens: Erneute Ausschreibung oder Rückversetzung?

In der Beschaffungspraxis öffentlicher Auftraggeber können sich Umstände ergeben, die so im Vergaberecht nicht vorgesehen sind und deren verfahrenstechnische Behandlung Beschaffer vor Herausforderungen stellt. Dazu zählt die Notwendigkeit, nach Ablauf der Angebotsfrist – unter Umständen sogar nach Öffnung der Angebote – eine neue Angebotsrunde durchzuführen. Bedarf es in dem Fall

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Die Vergabekammer des Bundes hat in einem jüngst ergangenen Beschluss (vom 13.10.2022, VK 1 – 83 / 22) den Rahmen des in dieser Situation Erlaubten abgesteckt und dabei die zu beachtenden rechtlichen Grenzen grundsätzlich erläutert.

I. Der Sachverhalt

Die Vergabestelle führte ein Offenes Verfahren durch. Das Fristende war für einen bestimmten Tag um 8:00 Uhr festgesetzt. Am Nachmittag des Vortages ging eine Rüge ein. Es wurde eine Verlängerung der Angebotsfrist gefordert, weil Hinweisblätter und aktualisierte Vergabeunterlagen erst kurzfristig vor Ablauf der Angebotsfrist auf der elektronischen Plattform bereitgestellt wurden. Die verbleibende Bearbeitungsfrist für die Änderungen sei angeblich unangemessen kurz.

Die Vergabestelle hat die Rüge umgehend geprüft und teilte den Bietern drei Minuten nach Ablauf der Angebotsfrist mit, dass die Angebotsfrist um mehrere Wochen verlängert werde. Zu diesem Zeitpunkt waren schon verschiedene Angebote eingegangen, unter anderem das der späteren Beigeladenen.

Die Bieter zogen die noch nicht geöffneten Angebote zurück und gaben zum Ende der neuen Angebotsfrist erneut Angebote ab.

In dem anschließenden Nachprüfungsverfahren war unter anderem die Frage zu klären, ob der Wiedereintritt in eine bereits beendete Angebotsphase überhaupt zulässig war.

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II. Die Entscheidung

Aus Sicht der Vergabekammer des Bundes ist die Verlängerung der Frist zur Angebotsabgabe nach Ablauf der ursprünglichen Angebotsfrist vergaberechtlich nicht zu beanstanden. Dabei führt die Vergabekammer zunächst allgemein zu dem Rechtsrahmen einer Rückversetzung nach Ende der Angebotsfrist wie folgt aus.

1. Rechtsrahmen zur Rückversetzung

Als Ausgangspunkt der Überlegungen verweist die Vergabekammer auf den Grundsatz, wonach es dem Willen des öffentlichen Auftraggebers überlassen sei, ob, wann und mit welchem Inhalt er einen Auftrag vergebe. Er sei insbesondere nicht gehalten, einen Zuschlag auf ein Angebot zu erteilen, das seinem Bedarf nicht oder in geringerem Umfange als ursprünglich angenommen entspreche.

Ebenso unterliege es der Gestaltungsfreiheit des öffentlichen Auftraggebers, wie und in welchem Umfang er einen erkannten Fehler in seiner Ausschreibung behebe. Dabei sei er an die vergaberechtlichen Gebote der Transparenz, Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung gebunden. Würden diese Gebote beachtet, bliebe ein ordnungsgemäß geführter und fairer Wettbewerb aufrechterhalten, und eine Verletzung von Bieterrechten sei nicht zu befürchten.

Grundsätzlich seien dabei zwei verschiedene Konstellationen zu unterscheiden: Vor Ablauf der Angebotsfrist könne der Auftraggeber die Vergabeunterlagen unproblematisch ändern und den Bietern neue Angebotsfristen gemäß § 20 Abs. 3 Satz 1 VgV einräumen.

Demgegenüber sei bei einer später erfolgenden Änderung, die der Korrektur eines zuvor begangenen Fehlers diene, eine Teilaufhebung der Ausschreibung durchzuführen.

Allerdings müsse der öffentliche Auftraggeber vor dem Schritt zur (Voll-)Aufhebung stets die Möglichkeit der Aufrechterhaltung oder Heilung des Vergabeverfahrens prüfen. Auch eine bereits erfolgte Submission im Offenen Verfahren schließe eine Fehlerkorrektur nicht aus (unter Hinweis auf: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Mai 2017, VII-Verg 43/16; Beschluss vom 12. Januar 2015, VII-Verg 29/14). Dass eine solche Rückversetzung grundsätzlich auch nach Submission zulässig sein müsse, ergebe sich bereits aus der Tatsache, dass im Wege des Nachprüfungsverfahrens gemäß § 168 Abs. 2 Satz 2 GWB eine Fehlerkorrektur durch Rückversetzung durch die Vergabekammer vorgegeben werden könne.

Sehr häufig sei es in diesen Fallkonstellationen bereits zu einer Angebotsabgabe gekommen, eine Zuschlagsentscheidung zumeist gefallen und diese gemäß § 134 GWB mitgeteilt worden. Eine durch den öffentlichen Auftraggeber selbst eingeleitete Fehlerkorrektur, ohne dass es beispielsweise nach einer Rüge zu einem Nachprüfungsverfahren komme, müsse daher gleichermaßen möglich sein und stelle auch verfahrensökonomisch das mildere Mittel dar.

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2. Auf den Fall bezogen

Vorliegend gäbe es keine Anhaltspunkte, dass die Vergabestelle gegen die genannten Grundsätze verstoßen habe.

Bei der von der Vergabestelle um 8:03 Uhr auf der Vergabeplattform mitgeteilten „Verlängerung“ der Frist zur Angebotsabgabe um zunächst 14 Tage handele es sich um eine zulässige Teilaufhebung der Ausschreibung zur Korrektur zuvor festgestellter Fehler.

Das Vergabeverfahren sei in die Angebotsphase zurückversetzt worden. Die Vergabestelle sei zu dieser Fehlerkorrektur berechtigt gewesen. Notwendige Voraussetzung für eine wirksame – vollständige oder auch nur teilweise – Aufhebung einer Ausschreibung sei lediglich, dass der öffentliche Auftraggeber für seine (Teil-)Aufhebungsentscheidung einen sachlichen Grund habe. Damit sei eine Diskriminierung einzelner Bieter ausgeschlossen und seine Entscheidung sei nicht willkürlich oder nur zum Schein.

Vorliegend spreche gegen eine gezielte Manipulation oder Benachteiligung von Bietern insbesondere, dass die Antragsgegnerin die Rückversetzung des Verfahrens und die Verlängerung der Angebotsfrist auf der Grundlage einer vergaberechtlichen Rüge eines Mitbewerbers vorgenommen habe. Die Fristverlängerung sei offensichtlich ohne Ansehung der Angebote noch vor Ablauf der Angebotsfrist in die Wege geleitet worden.

Einem eventuellen Manipulationsvorwurf habe die Antragsgegnerin schließlich dadurch entgegengewirkt, dass sie keine Öffnung der eingegangenen Angebote bei ihrer (organisatorisch von der Vergabestelle getrennten) Angebotssammelstelle habe vornehmen lassen. In der Folge konnten alle Bieter ihre Angebote zurückziehen.

Die Antragsgegnerin hatte hierdurch keine Kenntnis über die alten Angebote und deren Inhalte. Zudem hätten alle Bieter rechtzeitige Angebote abgegeben, die auch im Anschluss an die Teilaufhebung „neue“ Angebote gelegt haben. Es bestünden mithin keine Anhaltspunkte dahin gehend, dass einem Bieter, der die erste Angebotsfrist versäumt hat, nachträglich zur Angebotsabgabe verholfen werden sollte. Anhaltspunkte für eine diskriminierende Vorgehensweise oder einen Verstoß gegen das Transparenzgebot seien insofern nicht ersichtlich. Eine Verletzung von Bieterrechten zulasten der Antragstellerin lägen nicht vor.

III. Hinweise für die Praxis

Der zugrundeliegende Sachverhalt weist eine Besonderheit auf: Die Angebote waren zum Zeitpunkt der Verlängerung der Angebotsfrist noch nicht geöffnet. Dieser Umstand erleichtert den Nachweis, dass von der Zurückversetzung keine Manipulationsgefahr ausgeht.

Die Vergabekammer hat aber deutlich darauf hingewiesen, dass es selbst nach erfolgter Öffnung der Angebote noch eine zulässige Zurückversetzung und erneute Angebotsrunde geben kann. Eine lediglich abstrakte Gefahr der Manipulation genüge nicht, um dieses Vorgehen rechtswidrig erscheinen zu lassen. Vergabestellen, die diesen Schritt gehen möchten, sind gut beraten, ihre entsprechende Ermessensentscheidung zu begründen und zu dokumentieren.

Schließlich unterliegt die Entscheidung des Auftraggebers zur Zurückversetzung im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Transparenz, Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung (§ 97 Abs. 2 GWB) der uneingeschränkten Kontrolle durch die Nachprüfungsinstanzen. Auch darauf hat die Vergabekammer explizit hingewiesen.

Titelbild: Matt Lee – Unsplash