Selbstverständlich prüft jeder Bieter die Ausschreibungsunterlagen im Rahmen der Angebotsbearbeitung. Welche Pflichten treffen ihn, wenn er auf Unklarheiten oder Widersprüche stößt und welche Rechtsfolgen hat dies? Hierzu hat das OLG Celle kürzlich (Urteil vom 02.10.2019, 14 U 171 / 18) ausführlich Stellung genommen.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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I. Der Sachverhalt

In dem Gerichtsverfahren ging es um eine streitige Vergütung aus einem Vertrag über Straßenbauarbeiten. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Ein öffentlicher Auftraggeber (die spätere Beklagte) schrieb ein Straßenbau-Vorhaben aus, das in die beiden folgenden Pakete unterteilt war:

  • Der Bereich Straßenbau betraf die Erneuerung der Fahrbahn und Nebenanlagen (Gossen, Parkstreifen, Einmündungen).
  • Der Bereich Entwässerung betraf die Erneuerung der Straßenentwässerungsanlage, bestehend aus Straßenabläufen und Regenwasserleitungen.

Die Straßenbauarbeiten bezogen sich auf eine mehrspurige Straße, in deren Mitte ein Gleiskörper der Stadtbahn verlief. Die Straßenarbeiten betrafen lediglich die Fahrbahnen und Nebenbereiche, die im Leistungsverzeichnis konkret benannt wurden (Parkstreifen, Gosse usw.); Arbeiten am Gleiskörper sollten nicht stattfinden. Demgegenüber war der Bereich des Gleiskörpers von den ausgeschriebenen Entwässerungsarbeiten betroffen.

Nachdem ein Unternehmen (die später Klägerin) den Zuschlag erhalten hatte, kam es bei der Auftragsdurchführung zu einer unterschiedlichen Auslegung der Regelungen zur tatsächlich nicht vorgenommenen Vollsperrung. Gesperrt wurde lediglich die Straße, nicht aber die dazwischen liegende Stadtbahn.

Die Klägerin begründete ihren Anspruch auf eine Vollsperrung im Kern mit einer Regelung des Leistungsverzeichnisses (LV) zu den Straßenbauarbeiten: „Herstellen Fahrbahn unter Vollsperrung (…).“

Demgegenüber geht die Beklagte davon aus, dass die Sperrung nicht die Stadtbahn erfasst und verweist auf das LV zur Stadtentwässerung. Darin heißt es u.a.: „Die Stadtbahn im R. S. wird an 3 Stellen durch die geplanten Rohrverlegearbeiten in offener Bauweise gekreuzt.“

Die Klägerin macht gegenüber der Beklagten in der Folge Mehrkosten im Hinblick auf eine fehlende Vollsperrung von mehr als 300.000 EURO geltend, über die nunmehr gerichtlich zu entscheiden war.

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II. Das Landgericht

Das Landgericht (LG) hat im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe kein Anspruch zu, weil sie gegen die ihr obliegende Kooperationspflicht verstoßen habe. Denn sie habe nicht hinterfragt, weshalb im LV für die Entwässerungsarbeiten keine Vollsperrung vorgesehen war – im LV für die Straßenbauarbeiten hingegen schon. Auf diesen Widerspruch hätte die Klägerin hinweisen müssen. Beide LV seien in der Gesamtschau zu sehen. Die Klägerin habe darüber hinaus auch insofern gegen das Kooperationsgebot verstoßen, als sie die Beklagte nicht über die zu erwartende Höhe des Mehraufwands, der eine faktische Verdoppelung der Kosten bedeute, aufgeklärt habe.

III. Das Oberlandesgericht

Das Oberlandesgericht Celle (OLG) kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der geltend gemachte Anspruch bereits dem Grunde nach nicht besteht.

Ausdrücklich verwies das OLG allerdings darauf, dass die Begründung des LG nicht trage. Insoweit habe es zu Unrecht darauf hingewiesen, dass das Leistungsverzeichnis der Straßenarbeiten unklar und in Beziehung zum Leistungsverzeichnis Entwässerungsarbeiten widersprüchlich sei.

IV. Allgemeine rechtliche Überlegungen

Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellte das OLG auf die allgemeinen zivilrechtlichen Auslegungsgrundsätze nach §§ 133, 157 BGB ab. Dementsprechend sei bei einem Vertragsabschluss, der auf einem Vergabeverfahren der VOB/A beruhe, die Ausschreibung mit dem Inhalt der Auslegung zugrunde zu legen, wie ihn der Empfängerkreis verstehen musste. Grundlage der Auslegung sei der objektive Empfängerhorizont dieser potentiellen Bieter. Neben dem Wortlaut der Ausschreibung seien die Umstände des Einzelfalles, unter anderem die konkreten Verhältnisse des Bauwerks, zu berücksichtigen, zudem Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte.

Ob die ausschreibende Stelle ein bestimmtes Problem möglicherweise nicht gesehen habe, könne die Auslegung des Vertrages nicht beeinflussen; maßgeblich sei die objektive Sicht der potentiellen Bieter und nicht das subjektive Verständnis des Auftraggebers von seiner Ausschreibung.

Ein Bauvertrag sei zudem als sinnvolles Ganzes auszulegen. Es sei davon auszugehen, dass der Anbieter eine Leistung widerspruchsfrei anbieten wolle. Bei Unklarheiten über nicht von vornherein in Übereinstimmung zu bringende Vertragserklärungen habe sich die Auslegung zunächst an demjenigen Teil zu orientieren, der die Leistung konkret beschreibt. Dabei komme dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung gegenüber etwaigen Plänen jedenfalls dann eine vergleichsweise große Bedeutung zu, wenn damit die Leistung im Einzelnen genau beschrieben werde, während die Pläne sich nicht im Detail an dem angebotenen Bauvorhaben orientierten.

Nach Ansicht des OLG mache die Klägerin zutreffend geltend, dass Unklarheiten der Ausschreibung bzw. in den Ausschreibungsunterlagen grundsätzlich nicht zu Lasten des Auftragnehmers gehen dürften und der Auftragnehmer die ausschreibende Stelle grundsätzlich nicht auf Fehler im Leistungsverzeichnis hinweisen müsse. Lediglich im Fall, dass die Verdingungsunterlagen offensichtlich falsch seien, folge aus dem Grundsatz des Gebots zu korrektem Verhalten bei Vertragsverhandlungen eine Prüfungs- und Hinweispflicht des Auftragnehmers. Unterlasse der Auftragnehmer in einem solchen Fall den gebotenen Hinweis, sei er nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert, Zusatzforderungen zu stellen.

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V. Bezogen auf den Sachverhalt

Nach Ansicht des OLG konnte und durfte die Klägerin aufgrund des LV zu den Straßenbauarbeiten nicht annehmen, dass während der Straßenbauarbeiten kein Stadtbahnverkehr in dem von den Arbeiten betroffenen Abschnitt stattfinden würde.

Dass im Baubereich eine Stadtbahnlinie verläuft, sei der Klägerin als ortsansässigem Unternehmen bekannt gewesen, zudem war dies aus den Ausschreibungsunterlagen zu den Entwässerungsarbeiten ersichtlich.

Dass der Stadtbahnverkehr im LV zu den Straßenbauarbeiten überhaupt nicht thematisiert werde, erkläre sich daraus, dass die Straßenbauarbeiten den Gleiskörper, der in der Straßenmitte zwischen den zu erneuernden Richtungsfahrbahnen verläuft, nicht betrafen. Die Arbeiten beschränkten sich auf die Fahrbahnen und Nebenbereiche, die im LV konkret benannt werden, Arbeiten am Gleiskörper sollten nicht stattfinden.

Demgegenüber war der Bereich des Gleiskörpers von den ausgeschriebenen Entwässerungsarbeiten betroffen, wie dem dortigen LV zu entnehmen sei. Eine Regelung in Bezug auf die Stadtbahn sei daher hinsichtlich der Entwässerungsarbeiten erforderlich gewesen.

Die Klägerin könne auch nicht aus dem Passus „Herstellen Fahrbahn unter Vollsperrung“ folgern, dass der gesamte von den Bauarbeiten betroffene Bereich gesperrt werde, weil sich dieser nach dem Wortlaut auf eine Vollsperrung der von den Arbeiten betroffenen Fahrbahn beziehe. Der Gleiskörper gehörte, wie ausgeführt, nicht zu den von den Arbeiten betroffenen Bereichen.

Außerdem seien die Maßnahmen „Straßenbau“ und „Entwässerung“ im Paket ausgeschrieben worden, sie betrafen räumlich denselben Bereich und sollten zur selben Zeit ausgeführt werden. Zudem sei der Klägerin aufgrund der eindeutigen Angabe im LV zur Entwässerung positiv bekannt gewesen, dass der Stadtbahnverkehr während der Ausführungszeit in Betrieb bleibe. Maßgeblich sei eine objektive Sicht der Bieter. Danach habe außer Zweifel gestanden, dass der Stadtbahnverkehr in Betrieb bleibe und lediglich der Arbeitsbereich vollständig abgesperrt werde.

VI. Hinweise für die Praxis

Unklarheiten in den Ausschreibungsunterlagen dürfen nicht zu Lasten des Bieters gehen. Gleichwohl ist Bietern anzuraten, schon in der Vergabephase offensiv auf Unklarheiten hinzuweisen.

Letztlich bilden eindeutige Vergabeunterlagen die Grundlage für einen fairen Wettbewerb und nicht zuletzt werden die jeweiligen Bestimmungen Vertragsinhalt. Spätere Streitigkeiten über (vermeintliche) Unklarheiten bergen das Risiko, dass sich diese– wie in dem entschiedenen Fall – zu Lasten des Bieters auswirken.

Bildquelle: BCFC – shutterstock.