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Im Öffentlichen Auftragswesen gehört Univ.-Prof. Dr. rer. pol. Michael Eßig an der Universität der Bundeswehr München seit vielen Jahren zu den Experten, auch wenn es um Reformansätze und Innovationen für den öffentlichen Einkauf geht. Als einer der wenigen Wirtschaftswissenschaftler in diesem Bereich bereitet er interdisziplinäre Brücken über die oftmals rein (vergabe-)rechtlich geprägten Betrachtungen. Zudem ist Herr Prof. Dr. Eßig Mitglied des Beirats der cosinex.

Anlässlich der Kritik einiger Verbände an den Verlängerungen der teilweise um das 50-fache erhöhten Wertgrenzen aufgrund der Corona-Pandemie haben wir mit ihm über die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen gesprochen.

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cosinex: Lieber Herr Prof. Dr. Eßig, der aktuelle Reflex auf die Corona-Krise, die Erhöhung von Wertgrenzen im Bereich des Öffentlichen Auftragswesens, entspricht dem der vorherigen wirtschaftlichen Krisen. Als Ziel werden dabei eine Beschleunigung und zum Teil sogar ein Mehr an Investitionen angegeben. Wie bewerten Sie solche Maßnahmen?

Prof. Dr. Eßig: Auf den ersten Blick erscheint es sinnvoll, durch Erhöhung der Wertgrenzen Vergaben zu vereinfachen – auf den zweiten Blick jedoch ergibt sich ein differenziertes Bild. So hat bspw. der Bauindustrieverband Niedersachsen-Bremen in einer Pressmitteilung am 1. April mitgeteilt, dass ihm „keine Erkenntnisse darüber vor[liegen], dass es durch die Erhöhung der Wertgrenzen zu einer Beschleunigung oder gar zu einer Ausweitung öffentlicher Bauaufträge gekommen“ sei. Wenn selbst Lieferanten, welche ja am stärksten profitieren sollten, dies nicht als positiv einschätzen, sollte dies zumindest in der Gesamtbewertung berücksichtigt werden. Mit dem Verweis auf „Erkenntnisse“ wird das aus meiner Sicht dahinter liegende Grundproblem deutlich: Wir haben viel zu wenig valide Daten über das öffentliche Beschaffungswesen, um zielorientiert steuern zu können. Wir wissen viel zu wenig darüber, wie vergaberechtliche, aber auch vergabepraktische und beschaffungsstrategische Maßnahmen tatsächlich wirken.

cosinex: Hilft die Vergabestatistikverordnung hier weiter?

Prof. Dr. Eßig: Die Vergabestatistikverordnung ist ein wichtiger erster Schritt, da sie erstmals Daten zum Vergabeverhalten – welche ja bspw. über Pflichten zur Veröffentlichung und/oder Dokumentationspflichten (Vergabeakte) ohnehin vorhanden sind – in anonymisierter Form für solche Steuerungsaufgaben verfügbar macht. Dies ist jedoch nur ein erster Schritt – die Datenerhebung allein genügt nicht. In der Folge müssen die Daten auf Validität geprüft werden, was per se kein triviales Unterfangen ist, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Und schließlich – das ist fast der wichtigste Schritt – müssen die Daten so aufbereitet und aggregiert werden, dass daraus konkrete Maßnahmen abgeleitet werden können. Diese Maßnahmen betreffen sowohl das öffentliche Beschaffungswesen als Ganzes – bspw. vergaberechtliche Regelungen des Bundes und/oder der Länder – („Makro-Daten“), als auch die Frage, wie die einzelne Vergabestelle ihre konkrete Arbeit besser steuern kann („Mikro-Daten“). Dafür gibt es gute Beispiele: So veröffentlicht das Beschaffungsamt des BMI bspw. einen Jahresbericht, in dem es die Anzahl seiner Lieferanten und die Quote der „neuen“ Lieferanten ausweist. Dies kann ein Indikator dafür sein, wie das Wettbewerbsprinzip des Vergaberechts „wirkt“ – natürlich unter Berücksichtigung der spezifischen Marktsituation.

cosinex: Gilt also der Grundsatz „Daten gut, alles gut“?

Prof. Dr. Eßig: Im Prinzip ja. Ziel ist, die öffentliche Beschaffung evidenzbasiert zu steuern. Daten helfen der Politik, den Verwaltungsleitungen, den verantwortlichen Mitarbeiter/innen der Beschaffungsstellen – wenn sie gut, d.h. valide, objektiv und reliabel sind. Gleichzeitig haben wir noch viele weitere Akteure, die an diesen Informationen interessiert sind – man denke nur an Unternehmen, welche als potentielle Lieferanten für die Beschaffung von größter Bedeutung sind. Aber auch die Bürgerinnen und Bürger, welche als Steuerzahler/innen Transparenz über die Mittelverwendung zu Recht einfordern. Deutschland ist Teil der Open Government Partnership und propagiert Open Data in der Verwaltung – und die Beschaffung kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Sie hatten zu Beginn auf die Corona-Krise verwiesen. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig stärker evidenzbasierte Entscheidungen sind. Wenn wir die öffentliche Beschaffung strategisch aufwerten wollen, dann hilft schon die Analyse der enormen Beschaffungsvolumina, um eine Verbesserung der Ressourcenausstattung zu begründen.

cosinex: Wie kann die öffentliche Beschaffung von evidenzbasierten Entscheidungen profitieren?

Prof. Dr. Eßig: Gestatten Sie mir auch hier den Verweis auf die Corona-Krise und den damit verbundenen Versorgungsengpass mit Schutzkleidung zu deren Beginn. Tatsächlich zeigt die Krise auch hier wie mit einem Brennglas auf vorher schon vorhandene Probleme, in unserem Fall das Versorgungsproblem der öffentlichen Hand. Unsere Analyse der Daten der europäischen Ausschreibungsdatenbank TED, welche von der Europäischen Kommission zur Verfügung gestellt werden, hat ergeben, dass die Zahl der auf ein ausgeschriebenes Los eingegangenen Angebote in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken ist – von neun Angeboten im Jahr 2009 auf knapp über vier im Jahr 2018. Der Anteil der Aufträge bzw. Lose, bei denen nur ein einziges Angebot einging, lag im Jahr 2018 bei 20,26 Prozent! Das ist nicht gut, wenn wir an die großen Herausforderungen für die öffentliche Beschaffung in der Zukunft denken: Innovation, Nachhaltigkeit und Digitalisierung können nur gelingen, wenn wir die besten Lieferanten gewinnen und die öffentliche Hand als attraktiver Auftraggeber wahrgenommen wird. Ich bin überzeugt, dass eine zahlen-, daten- und faktenbasierte Beschaffungspolitik dazu einen wichtigen Beitrag leisten kann.

cosinex: Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Dr. Eßig!