EU-Kommission

Mit Datum vom 3. Mai 2021 haben sich insgesamt 23 Rechtsanwälte in einem offenen Brief („Offener Brief der Vergaberechtsanwälte in Deutschland zur fortschreitenden systematischen Missachtung des EU-Vergaberechts auf Bundes- und Landesebene“) an die Öffentlichkeit gewandt.

Der explizit benannte Adressatenkreis ist durchaus beeindruckend: Reicht er doch von der EU-Wettbewerbskommissarin über Repräsentanten der EU-Kommission, des EU-Parlaments des Deutschen Bundestages bis hin zum Präsidenten des Bundes der Steuerzahler.

In dem Brief wird eine Beschaffungspraxis auf Bundes- und Landesebene bemängelt, die angeblich zunehmend die europäischen Vorgaben von Wettbewerb, Gleichbehandlung und Transparenz bei Beschaffungen der öffentlichen Hand außer Kraft setzt. Mittel hierzu sei eine vergaberechtswidrige Berufung auf angebliche Dringlichkeit sowie Alleinstellungsmerkmale. Dies führe zu stark überhöhten Preisen und Qualitätsdefiziten bei der Beschaffung. Ebenso ginge das zulasten mittelständischer Interessen.

Nach Ansicht der Briefschreiber würden diese Verstöße oftmals keine rechtlichen Konsequenzen zeitigen, weil die Einhaltung des Vergaberechts mangels Aufsichtsbehörde auf die aktive Klage (Nachprüfungsverfahren) durch die betroffenen Unternehmen angewiesen sei. Diese stammten regelmäßig aus dem Mittelstand und scheuten deshalb Aufwand Kosten und Reputationseinbußen, weil selbst im Erfolgsfall höchstens die Chance auf Wettbewerb zugesprochen werden könne.

Ausdrücklich werden auch die für Nachprüfung zuständigen Gerichte in Deutschland kritisiert, die solche Klagen angeblich auftraggeberfreundlich entscheiden würden. Selbst dann, wenn die Vorgehensweise gerichtlich als rechtswidrig festgestellt würde, bliebe dies fast immer ohne persönliche, politische oder praktische Konsequenzen.
Zum Beleg hierfür wurden 15 Beschaffungsvorgänge aufgelistet, die mehr oder weniger prominent insbesondere als Beleg einer rechtswidrigen Auftragsvergabe ohne Wettbewerb dienen sollen.

Am Ende des Briefes wird ausgeführt, dass diese rechtswidrige Beschaffungspraxis im angeblich frappierenden Gegensatz zu Beschaffungen auf unterer Ebene stünde (bspw. Kommunen und Krankenhäuser), wo erhebliche Mühen aufgebracht würden, um sich an gesetzliche Vorgaben zu halten. Der Brief schließt mit einem flammenden Appell: „Wir möchten Sie daher auffordern, dieser sowohl für die öffentlichen Haushalte und die Empfänger der Leistungen als auch für unsere demokratieschädlichen Entwicklung entschieden entgegenzutreten.“

Keinen Beitrag mehr verpassen? Jetzt für unseren Newsletter anmelden und Themen auswählen

Ihre Anmeldung konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Ihre Anmeldung war erfolgreich.

Anmerkungen

Selbstverständlich ist es das gute Recht eines jeden besorgten Bürgers und auch von besorgten Vergaberechtsanwälten, auf erlebte Missstände hinzuweisen. Ob man angesichts der doch sehr begrenzten Zahl der Unterzeichner einen Brief im Namen „der Vergaberechtsanwälte in Deutschland“ schreiben kann, ist jedenfalls einer kritischen Nachfrage zugänglich.

Natürlich kann man Fehlentwicklungen sachlich fundiert aufzeigen. Ob alle angeführten Beispiele hierfür taugen, erscheint allerdings fraglich. Insbesondere wenn es sich um abgeschlossene und in mehreren Instanzen ausjudizierte Vorgänge handelt, wird dadurch die Rechtsprechung angegriffen. Sollten unterzeichnende Anwälte bei den entsprechenden Nachprüfungsverfahren involviert gewesen sein, kann der Brief als nachträgliche Richterschelte empfunden werden. Stehen die Beispiele mit laufenden Nachprüfungsverfahren in Verbindung, ist dies ebenfalls kritisch zu hinterfragen. Letztlich wird Rechtswidrigkeit coram publico unterstellt, wo doch erst am Ende des laufenden Nachprüfungsverfahrens das entsprechende Urteil stehen sollte. Ob die angestrebte Aufmerksamkeit und damit ggf. einhergehenden Kollateralschäden im Interesse der Mandanten liegen, müssen diese beurteilen.

Letztlich erscheint der Brief auf den ersten Blick von einer hehren Absicht getragen. Fraglich ist, ob man sich deswegen der pauschalen Kritik insbesondere an den Gerichten aber auch an den Entscheidungsträgern auf Beschafferseite des Bundes und der Länder anschließen möchte. Außerhalb der vergaberechtlichen Fachwelt war das Echo in den Massenmedien jedenfalls überschaubar, vielleicht zu Recht.

Interessierte können sich ihre eigene Meinung bilden und den Brief in Gänze nachlesen unter diesem Link.