Wie ist damit umzugehen, wenn ein Angebot zunächst formwidrig per E-Mail eingeht und dann später form- (und frist)gerecht über die vorgegebene Vergabeplattform? Bislang wurde oftmals vertreten, dass die Möglichkeit der Kenntnisnahme des Angebotsinhalts vor Angebotsöffnung des per E-Mail eingegangenen Angebotes einen Verstoß gegen den Geheimwettbewerb darstellt, so auch das OLG Karlsruhe (Beschl. v. 17.03.2017, 15 Verg 2 / 17) im Fall einer Vergabe nach Maßgabe der VOB/A. Ein solcher Fehler „infiziere“ gleichsam das formgerecht eingegangene Angebot, da auch dessen Inhalt durch die E-Mail bekannt sei. Insofern müssten beide ausgeschlossen werden.

Der Autor

Norbert Dippel ist Syndikus der cosinex sowie Rechtsanwalt für Vergaberecht und öffentliches Wirtschaftsrecht. Der Autor und Mitherausgeber diverser vergaberechtlicher Kommentare und Publikationen war viele Jahre als Leiter Recht und Vergabe sowie Prokurist eines Bundesunternehmens tätig.

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Nunmehr hat das OLG Frankfurt a.M. entschieden, dass ein formgerechtes Angebot nicht allein deshalb vom Verfahren auszuschließen ist, weil es zuvor formwidrig per E-Mail an die Vergabestelle übermittelt worden war (Beschluss vom 18.02.2020, 11 Verg 7 / 19).

I. Der Sachverhalt

Im Rahmen eines EU-weiten Vergabeverfahrens gab eine Bieterin zunächst ein Angebot per (einfacher, unverschlüsselter) E-Mail ab. Das eigentliche Angebot befand sich im Anhang zu der Mail. Später gab sie es erneut form- und fristgemäß – wie in den Ausschreibungsunterlagen gefordert – über die Vergabeplattform ab. Nach Angebotsöffnung wurde sie von der Vergabestelle darüber informiert, dass das per E-Mail eingegangene Angebot mangels Einhaltung der Formvorschriften auszuschließen sei. Auch das später über die Vergabeplattform eingereichte Angebot sei auszuschließen, da es von dem unverschlüsselten Angebot „infiziert“ werde.

Nach erfolgloser Rüge wendete sich die Bieterin mit einem Nachprüfungsantrag gegen den Ausschluss ihres Angebotes. Die Vergabekammer stellte im Kern darauf ab, dass das zweite Angebot form- und fristgerecht eingegangen sei. Hiergegen wandte sich nunmehr die Vergabestelle mit der sofortigen Beschwerde.

II. Die Entscheidung

Auch der Vergabesenat bei dem OLG Frankfurt stellte darauf ab, dass das zweite Angebot, das über die Vergabeplattform eingereicht wurde, form- und fristgerecht eingereicht worden sei. Demnach liege ein Ausschlussgrund nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 53 VgV nicht vor.

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III. Kein Ausschlussgrund gem. § 57 VgV

Gemäß § 57 Abs. 1 VgV seien Angebote u.a. dann auszuschließen, wenn sie nicht den Erfordernissen des § 53 VgV entsprächen. § 57 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 VgV enthalte eine Auflistung, die mit dem Zusatz „insbesondere“ eingeleitet werde. Eine extensive Auslegung sei damit allerdings nach herrschender Meinung in der Literatur nicht verbunden.

Der Ausschlussgrund nicht form- bzw. fristgerecht eingegangener Angebote nach § 57 Abs. 1 VgV solle insbesondere verhindern, dass Bieter bevorteilt werden, die Frist- und Formvorgaben missachteten, sodass ihnen mehr Zeit/Freiraum für die Angebotserstellung zur Verfügung stünde. Es solle sichergestellt werden, dass nur vergleichbare Angebote in die Wertung gelangten. Die Vergleichbarkeit der Angebote hinsichtlich Zeit- und sonstiger Formvorgaben werde jedoch nicht beeinträchtigt, wenn ein form- und fristgerecht eingegangenes Angebot in der Wertung verbleibe, welches zuvor nicht formgerecht per E-Mail übermittelt worden war. Der Bieter erlange dadurch weder einen Zeitvorteil, noch sonstige ihn gegenüber anderen Bietern bevorteilende Spielräume.

IV. Keine „Infektion“

Nach Ansicht des Vergabesenats führe der Formverstoß des ersten Angebotes jedoch nicht dazu, dass nachfolgend nicht ein Angebot unter Einhaltung der Formvorgaben wirksam hätte eingereicht werden können. Das formwirksam eingereichte zweite Angebot werde insbesondere nicht durch das formwidrig eingereichte erste Angebot „infiziert“.

Eine derartige nicht mehr heilbare „Infektion“ lasse sich nicht aus der Regelung in § 55 VgV ableiten. Demnach dürfe der öffentliche Auftraggeber vom Inhalt der Angebote erst nach Ablauf der entsprechenden Fristen Kenntnis nehmen.

§ 55 VgV diene dem im Vergaberecht bedeutenden Grundsatz des Geheimwettbewerbs. Dieser solle ein transparentes und auf Gleichbehandlung gerichtetes Vergabeverfahren gewährleisten. Um einen unverfälschten Wettbewerb sicherzustellen, sollten die Bieter ihre Angebote ohne Kenntnis der Angebote der anderen Bieter erstellen. Diese Ziele würden vorliegend durch die zunächst per E-Mail erfolgte Übersendung des Angebots nicht in einer derartigen Weise tangiert, dass – auch unter Berücksichtigung des in § 97 Abs. 1 GWB niedergelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – das Angebot von der Wertung auszuschließen sei.

Der Geheimwettbewerb diene der Durchsetzung des Wettbewerbsgrundsatzes gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB. Eine besondere Ausprägung des Geheimwettbewerbs enthalte inzwischen der Ausschlusstatbestand des § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Demnach komme ein Ausschluss in Betracht, wenn hinreichende Anhaltspunkte für eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung vorlägen.

Welche Bedeutung dem allgemeinen Grundsatz des Geheimwettbewerbs neben der Neuregelung § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB überhaupt noch zukommt, könne hier offenbleiben. Auch wenn die hier vorliegende Konstellation eines zunächst unverschlüsselt eingereichten Angebots dem neben § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB noch verbleibenden Bereich einer denkbaren Beeinträchtigung des Geheimwettbewerbs zugerechnet würde, würde dies hier nicht den Ausschluss des Angebots rechtfertigen. Dabei spreche aus Sicht des Senats bereits viel dafür, nicht schlicht auf die rein abstrakte Gefahr der Beeinträchtigung des Geheimwettbewerbs abzustellen, sondern darauf, ob hinreichende Anhaltspunkte für ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten vorlägen. Unstreitig sei es hier jedoch nicht zur Kenntnisnahme durch Dritte gekommen und sei eine derartige Kenntnisnahme nach dem Vorbringen der Vergabestelle auch nicht ansatzweise wahrscheinlich gewesen. Die Vergabestelle habe vielmehr unmittelbar nach Eingang der E-Mail selbst darauf hingewiesen, dass die E-Mail nicht berücksichtigt und damit als nicht vorhanden behandelt würde.

Jedenfalls aber sei der Grundsatz des Geheimwettbewerbs nicht losgelöst von anderen vergaberechtlichen Zwecken zu betrachten. Die unterschiedlichen vergaberechtlichen Primärziele seien vielmehr stets unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes umzusetzen. Darüber hinaus solle auch nach neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung ein Ausschluss nicht allein auf dem Gedanken der formalen Ordnung beruhen (unter Verweis auf: BGH, Urteil vom 18.6.2019 – X ZR 86/17) – die rechtlichen Grundlagen seien vielmehr dem geänderten Werteverständnis entsprechend auszulegen; diese Auslegung sei einer rein formalisierenden Betrachtungsweise vorzuziehen.

Ausgehend hiervon erscheine jedenfalls in der vorliegenden Konstellation ein Ausschluss des formwirksamen zweiten Angebots allein im Hinblick auf die vorher erfolgte Übersendung per E-Mail unverhältnismäßig. Die mit der unverschlüsselt erfolgten Einreichung verbundene Gefährdung des Geheimwettbewerbs hätte durch das sofortige Löschen der E-Mail und/oder jedenfalls verschlüsselt erfolgtes Abspeichern minimiert werden können. Zur Vermeidung einer zu starren und rein formalisierenden Anwendung des Vergaberechts komme ein Angebotsausschluss zur Wahrung des Geheimwettbewerbs jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn nachträgliche Manipulationen ohne vernünftige Zweifel ausgeschlossen werden könnten. So sei es hier. Die Kenntnisnahme anderer Bieter oder aber der Vergabestelle vom Eingang des der E-Mail als gesondert zu öffnendem Anhang beigefügten Angebots erscheint so fernliegend, dass eine Beeinträchtigung des Geheimwettbewerbs vorliegend ohne vernünftige Zweifel ausgeschlossen werden könne.

Von Praktikern, für Praktiker: Die cosinex Akademie

V. Hinweise für die Praxis

Wie eingangs geschildert, kann der Beschluss des OLG Frankfurt überraschen. Ausdrücklich hat sich der Vergabesenat damit auseinandergesetzt, ob anlässlich der divergierenden Ansicht des OLG Karlsruhe eine sog. Divergenzvorlage an den BGH erfolgen müsse. Letztlich verneinte er dies aber, weil insbesondere die in Bezug genommenen Ausführungen des OLG Karlsruhe nicht entscheidungserheblich waren und als sog. obiter dictum1 erfolgten. In solchen Fällen sind Divergenzvorlagen an den BGH nicht zwingend.

Die „überschießenden“ Ausführungen des Vergabesenats Karlsruhe zeigen eine deutlich andere Sichtweise als das OLG Frankfurt, weshalb sie nachfolgend kurz zitiert werden: „Die Verschlüsselung eines Angebots dient dem Zweck, das zentrale Anliegen im Vergaberecht, einen geheimen und damit manipulationsfreien Wettbewerb sicherzustellen, umzusetzen. Dieser Zweck würde unterlaufen, könnte ein verschlüsselt eingereichtes Angebot, das mit einem zuvor unverschlüsselt eingereichten Angebot identisch ist, gewertet werden. Der Zweck der Regelungen in § 16 EU Nr. 2, § 13 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A gebietet vielmehr zwingend, dass einem unverschlüsselten Angebot nachfolgende gleichlautende, aber verschlüsselt eingereichte Angebote ebenfalls ausgeschlossen sind.

Bildquelle: BCFC – shutterstock.com

Fussnoten

  1. Lat. für „nebenbei Gesagtes“, also nicht entscheidungserhebliche Rechtsansichten des Gerichts.